Blog 42: Unternehmerische Nachfolge in Kirgistan — Beobachtungen und Erkenntnisse

Im Juli 2024 war St. Galler Nachfolge in Kirgistan und hat mit kirgi­si­schen Unter­neh­me­rinnen und Unter­nehmern das Thema Unternehmens­nach­folge vertieft und disku­tiert. Diese vielfältige und berei­chernde Woche ist auf Initiative der Stiftung Business Profes­sionals Network BPN entstanden. Frank Halter und Claudia Buchmann von St. Galler Nachfolge waren persönlich in Kirgistan vor Ort.

Claudia Buchmann und Frank Halter

Es ist spannend und lehrreich, neue Kulturen kennen zu lernen. Unser “Pro bono”-Engagement für BPN (Business Profes­sional Network) in Kirgistan gab uns die Möglichkeit, im Kontext der Unternehmens­nach­folge einen tieferen Einblick in eine andere Kultur und in andere Tradi­tionen zu gewinnen. Wir haben in Kirgistan vor Ort ein Seminar zum Thema Unternehmens­nach­folge und anschliessend verschiedene Coachings mit Unter­neh­me­rinnen und Unter­nehmern durch­ge­führt (an dieser Stelle ein herzliches Danke­schön an die profes­sio­nelle Übersetzung von Deutsch auf Russisch und umgekehrt). Nach unserer Rückkehr sind wir der Frage nachge­gangen, was anders ist, neu und lehrreich für uns in der Schweiz und für Kirgistan?

Unternehmerischer Spirit und hohe Flexibilität 

Wir durften ein Land und Leute kennen lernen, die in einem Umfeld unzäh­liger Umbrüche leben, darin aufge­wachsen und davon geprägt sind. Die Auflösung der UdSSR verschaffte Kirgistan Unabhän­gigkeit von Russland. Das war ein grosser Schritt für das Land und das dahinter liegende Wirtschafts­system. Die Verab­schiedung von der Planwirt­schaft führte zuerst in eine Krise. Angebot und Nachfrage mussten sich neu entwickeln und dafür musste ein eigener Rahmen geschaffen werden. 

Wir bekamen den Eindruck, dass diese «Abgrenzung» zu Russland in Kirgistan identi­täts­stiftend ist für die Menschen, die im Land leben. Gleich­zeitig – und dessen waren wir uns im Vorfeld nicht bewusst – gibt es im Land gegen 80 verschiedene Ethnien. Von der Unter­neh­merin mit südko­rea­ni­schen Wurzeln in der 3. Generation, über Mongolen, Russen, Kirgisen bis hin zu arabisch-stämmigen Personen – Kirgistan ist ein Land “nomadi­scher Vielfalt”. 

Seit der Unabhän­gigkeit hat das Land mehrere Revolu­tionen erlebt. Dies ist der Kontext, wo Unter­neh­mertum spriesst. Wir erlebten eine hohe unter­neh­me­rische Flexi­bi­lität (Branchen­wechsel über die Zeit ist nicht selten), Aufbruch­stimmung und den Drang nach Selbstän­digkeit und Unabhän­gigkeit, da die Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass das politische Klima sich rasch ändern und daher morgen alles anders sein kann. 

Das ist ein grosser Unter­schied zu unserer langen politi­schen Stabi­lität. Wir machten die Beobachtung, dass aus diesem Grund an verschie­denen Stellen «Sollbruch­stellen» eingebaut oder verschiedene Vermö­gens­be­stand­teile vorsorglich auf verschiedene Famili­en­mit­glieder übertragen werden, um sich als Familie möglichst breit abzusi­chern. Die Not macht erfin­de­risch und erfordert eine für uns beein­druckende Flexibilität. 

Die Rolle der Frau in der Nachfolge

Mehrfach hörten wird die Formu­lierung: “Meine Tochter ist verhei­ratet und deshalb gehört sie jetzt zu einer anderen Familie, weshalb ich für sie finan­ziell nicht mehr verant­wortlich bin.” Diese Tradition ist gerade in ländlichen Regionen noch sehr verankert. In unseren Gesprächen mit verschie­denen jungen Unter­neh­me­rinnen vor Ort gibt es heute z.B. Aussagen wie: “Ich werde nie heiraten, denn ich will nicht, dass das Vermögen meiner Herkunfts­fa­milie ausein­an­der­ge­rissen wird” oder “Ich habe mein eigenes Unter­nehmen gegründet und aufgebaut, weil ich von meiner Ursprungs­fa­milie nichts an Unter­stützung bekommen habe, seit ich gehei­ratet habe.” 

Westlich geprägte Werte prallen für eine junge Generation auf alther­ge­brachte lokale Werte­bilder und führen zu indivi­du­ellen und eigen­stän­digen Lösungs­an­sätzen. Was uns ebenfalls auffiel, dass sehr viele Frauen als Unter­neh­me­rinnen unglaublich viel Verant­wortung für Familie UND Unter­nehmen übernehmen. Sie stellen ihre eigenen Bedürf­nisse weit zurück. Diese hohe Belastung über Jahre oder Jahrzehnte hinter­lässt ihre Spuren. 

Jugend vor Alter

Bei uns in der Schweiz hiess es oft: Der älteste Sohn übernimmt den Hof. In Kirgistan hörten wir oft die Formu­lierung, dass der jüngste Sohn das Unter­nehmen übernehmen wird (und eben nicht der Erstge­borene). Wir fragten nach: Warum der Jüngste? Der Hinter­grund der Überlegung ist, dass der Jüngste noch am längsten leben wird und damit die finan­zielle Unter­stützung der Eltern länger sicher­ge­stellt ist. In vielen Familien ist der Versor­gungs­auftrag der Eltern an die nächste Generation übertragen, was wir so in der Schweiz nicht (mehr) kennen. 

Fairness und Gerechtigkeit 

Beim Thema Vertei­lungs­ge­rech­tigkeit haben wir mit den Unter­neh­me­rinnen und Unter­nehmern über unser westlich geprägtes Leistungs‑, Gleich­heits- und Bedürf­nis­prinzip gesprochen. Die kirgi­sische Tradition sieht vor, dass das Unter­nehmen unent­geltlich an den jüngsten Sohn übertragen wird. In Bezug auf das Bedürf­nis­prinzip bedeutet dies, dass die finan­zielle Vorsorge der Eltern durch die überneh­mende Generation zu leisten ist – so wird tradi­ti­ons­gemäss der Ausgleich sicher­ge­stellt. Das Gleich­heits­prinzip steht da weit hinten an – gefolgt vom Leistungsprinzip. 

Spannend für die Teilmehmer:innen aus Kirgistan war die Erkenntnis, dass in der Schweiz ein Unter­nehmen auch inner­fa­miliär oft an Nachkommen verkauft wird und nicht unent­geltlich übertragen wird (z.B. Schenkung). In der Schweiz haben wir damit einen Lösungs­ansatz, der das Leistungs­prinzip berück­sichtigt. Einzelne Teilneh­mende haben den Gedanken unmit­telbar aufge­griffen und verfolgen die Idee weiter. Dies könnte ein möglicher Game-Changer für einzelne inner­fa­mi­liären Diskus­sionen sein, deren Resultat wir gerne in 3–4 Jahren in Erfahrung bringen werden. 

Verständigung ist mehr als Worte

Wir hatten das Glück, wunderbare inter­kul­tu­relle Überset­ze­rinnen zu haben, die uns die Kommu­ni­kation Deutsch/Englisch – Russisch überhaupt ermög­licht haben. In den Gesprächen mit den Unternehmer:innen haben wir schnell gemerkt, dass es für die Verstän­digung noch ganz andere Kompo­nenten braucht: Wir sind auf eine Sprache und Ausdrucks­weise getroffen, die gespickt ist mit warmen und emotio­nalen Formu­lie­rungen und Bildern. Wir haben dies übernommen, was zu einem Austausch von Herz zu Herz führte, der uns tief berührt hat. 

Genauso berührend war die Gastfreund­schaft und die Dankbarkeit für unser Wirken, die wir erfahren durften: Sei es der Tee oder Kaffee mit Gebäck nach den Coaching-Gesprächen, die Umarmungen unter Frauen oder Geschenke lokaler Handwerks­kunst, die uns nun auch hier in der Schweiz an Kirgistan erinnern.

Fazit 

Wir blicken auf fünf tolle und engagierte Tage zurück und bedanken uns an dieser Stelle nochmals herzlich bei allen Mitar­bei­tenden vor Ort von BPN Kirgistan. In den letzten 25 Jahren haben sie dank ihrem Engagement eine tolle Aufbau­arbeit geleistet und viele unter­neh­me­rische Existenzen ermög­licht. Wenn diese Unter­nehmen in die nächste Generation übertragen werden können, dann ist ein bedeu­tender wirtschaft­licher Schritt gemacht, denn es gibt noch keine Nachfolge-Tradition oder ‑Erfahrung wie bei uns in der Schweiz. Es freut uns, dass wir dazu einen Beitrag fürs Gelingen leisten und entspre­chende Impulse setzen durften. 

Fotonachweis: Claudia Buchmann, Frank Halter, BPN Kirgistan

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Claudia Buchmann

Menschen und Unternehmen im Rahmen von Nachfolgeprozessen in ihrer (Weiter-) Entwicklung zu begleiten, das ist die grosse Passion von Claudia Buchmann. Als langjährige Unternehmerin weiss sie, was unternehmerisches Denken und Handeln in Veränderungsprozessen bedeutet: ein grosses Stück Arbeit und ein freudiges Feiern von Erfolgen.

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