«Papier ist geduldig? Wenn Strukturen nur auf dem Papier bestehen. -
Die Entwicklung von Strukturen (Governance) beginnt im Kopf und im Herz der Betroffenen und Involvierten. Beim Generationenwechsel, bei der Weiterentwicklung von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien.»
Die Heterogenität von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien ist riesig. Je nach Ausgangslage und Zukunftsplänen gilt es, unterschiedliche Strukturen und rechtliche Instrumente zu definieren. Die Praxis zeigt und lehrt uns jedoch, dass Papier geduldig sein kann, wenn die geschaffenen Strukturen nur auf dem Papier bestehen und nicht gelebt werden.
Die Entwicklung dieser Strukturen und ihre Veränderung beginnt im Kopf und Herz der involvierten Individuen und nimmt schliesslich in der Interaktion im Miteinander Gestalt an.
Es liegt somit auf der Hand, weshalb im St.Galler Nachfolge-Modell die Gestaltungsdimension «Governance» als eine der kräftigsten Gestaltungsdimensionen gilt: im Rahmen des Generationenwechsels, oder der Weiterentwicklung von Familienunternehmen und Unternehmerfamilien (vgl. www.sgnafo-modell.ch).
Family Business-Governance ist ein grosser Begriff, der auch etwas abstrakt anmutet. Die Operationalisierung kann sehr pragmatisch und wirkungsvoll erfolgen. Im St.Galler-Nachfolge-Modell sprechen wir von Governance-Strukturen, Governance-Instrumenten und Governance-Prozess.
In diesem Blog liegt der Fokus nun auf dem Governance-Prozess. Im vorliegenden Kontext bedeutet dies, wie und weshalb der Prozess zwischen Familie und Unternehmen gelebt werden kann. Es geht also nicht darum wie und wozu allfällige Strukturen gebaut werden.
Governance-Prozess bedeutet, dass etwas im ZeitRAUM geschieht.
Im Dialog mit sich selbst
Familienmitglieder – ob jung oder alt – sind angehalten, sich selbst zu reflektieren: «Wer bin ich, was will ich, was kann ich, was will ich nicht? Was sind meine Erwartungen an mich selbst, was sind meine Bedürfnisse und was bin ich bereit, wo und wie in die Umsetzung zu bringen?»
Eine gesunde (Selbst-)Reflexion in Bezug auf die persönlichen Grundwerte (= Haltung), in Bezug auf die eigenen Antriebe und Motivationen (= Bereitschaft) sowie in Bezug auf das eigene Tun (= Handlung) ist sehr wertvoll, um insbesondere in unsicheren Zeiten die eigene Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten zu können. Es gilt, die eigenen Ressourcen zu erkennen, zu verstehen und im Anschluss sinnvoll zu nutzen und einzusetzen.
Polaritäten überwinden
Ob unter Eheleuten, Geschwistern oder in generationsübergreifenden Situationen: Unterschiedliche Ressourcen und Bedürfnisse in Bezug auf die einzelnen Individuen können als etwas Fruchtbares oder eben auch Furchtbares empfunden und erlebt werden.
Dies setzt jedoch die grundlegende Bereitschaft voraus, sich auf das Gegenüber einzulassen, Fragen zu stellen und auch das Sich-in-Frage-Stellen-Lassen zuzulassen.
Kurzfristig ist es vordergründig viel einfacher, seine Position zu kennen und diese als diskutierbar zu vertreten. Damit ist die Grundlage für ausgeprägte Polaritäten geschaffen. Die Verhärtung von Positionen hebelt die Meinungsbildung für etwas Neues aus. Viel fruchtbarer und konstruktiver ist der Dialog – auch wenn sich dieser für jeden einzelnen auch anstrengend anfühlt.
Dialog schafft gemeinsame Wirklichkeit
Nur der Dialog selbst ermöglicht es, in Familiensystemen neue Ideen, Modelle, Gedanken und Lösungsansätze zu entwickeln. Es ist ein gemeinsames Ringen um Visionen, um Sinnstiftendes und damit um gemeinsame Ziele.
Die Eigentümer können sich dann wirkungsvoll und konstruktiv in den Dienst des Unternehmens und der Familie stellen, wenn die Eigentümer in den Grundzügen in eine gleiche Richtung gehen, die gleichen Stossrichtungen vertreten und Ziele verfolgen. Dies kann (und soll) auch unter Berücksichtigung von privaten Freiräumen und klar definierten persönlichen Grenzen geschehen.
Wir sprechen in unserer Arbeit dabei sehr gerne von der normativen Kraft, die vom «Selbstverständnis Familienunternehmen» ausgeht. Dieser Gemeinsinn kann Eingang finden in eine Familiencharta, in ein Leitbild, in eine Familienvision oder auch in ein Nachfolgeleitbild.
Das Ringen um und für eine gemeinsame Idee und damit eine gemeinsame Wirklichkeit stellt dabei keine einmalige Aktion dar, um die Idee einmalig auf Papier zu bringen. Nur wenn Familienmitglieder regelmässig die Ideen und Wertvorstellungen und auch die Grenzen überprüfen und neu aushandeln, kann Veränderung über die Zeit erkannt und adaptiert werden. Deshalb gilt es, im Dialog zu bleiben. Nur so wird Resonanz sichergestellt.
«Woher kommen wir? Wer sind wir? Warum sind wir hier? Wohin geht die Reise? Wofür stehen wir? Was ist unsere Aufgabe als Familie?» Diese und ähnliche Fragen können Antwort geben auf die sogenannte «Legacy» und damit verbunden eben auch auf des Selbstverständnis Familienunternehmen: die Grundlage für die Kultur eines Familienunternehmens und einer Unternehmerfamilie. Dabei geht es quasi um das Erbe hinsichtlich Grundwerten, die weitergegeben werden können.
Kommunikation als Schlüsselressource
«Ich meine zu wissen, was mein Vater denkt, und deshalb habe ich entschieden, dass ich es wie folgt mache.» Oder: «Ich weiss ja, wie meine Tochter funktioniert, und deshalb habe ich für sie entschieden, dass…».
Solche und ähnliche Momente erleben wir immer wieder im Unternehmeralltag. Sind die getroffenen Annahmen noch immer korrekt? Was ist heute richtig und was ist falsch? Familienmitglieder wissen es nur, wenn sie von einer impliziten Kommunikation zu einer expliziten Kommunikation wechseln. Zu diesem Zweck kann es sehr wirkungsvoll sein, dass die Familienmitglieder in einem ersten Schritt Kommunikationsregeln definieren und gemeinsam lernen, sich diese anzueignen.
Das Training und die Routinisierung verändern mit der Zeit die Kommunikationskultur. «Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.» Eben nicht! Wir wollen und müssen Polaritäten überwinden, wenn sich ein Familienunternehmen oder eine Unternehmerfamilie für etwas Gemeinsames engagieren will.
Im Dialog kann verantwortungsvoll und zukunftsgerichtet gestaltet werden.
Autor:
Dr. Frank Halter, St.Galler Nachfolge
Dieser Beitrag wurde erstmalig veröffentlicht bei Rahn und Bodmer, vgl. dazu
https://www.rahnbodmer.ch/notablog/2020/11/family-governance-jenseits-von-strukturen-und-recht/