Eine Nachfolgelösung, die von allen Involvierten als fair empfunden wird, hat signifikant höhere Chancen, Bestand zu haben — und die involvierten Personen den Prozess mit einem guten Gefühl abschliessen zu lassen. Als fair empfundene Bedingungen und Gerechtigkeit sind somit ein Schlüssel für erfolgreiche Nachfolgelösungen. Was aber ist “gerecht”? Und was können Involvierte und Nachfolgeexperten dazu beitragen, dass eine Nachfolge als gerecht empfunden wird? Ein Patentrezept gibt es nicht, wie so oft. Eckpunkte, die beachtet werden können, aber schon.
Wann hatten Sie sich das letzte Mal ungerecht behandelt gefühlt? Und wie fühlte sich das genau an? Dieses Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, fühlt sich unangenehm an — wohl für die meisten. Gleichzeitig ist es eine sehr persönliche und subjektive Empfindung, die jemand in einer bestimmten Situation hat. Für andere kann sich dieselbe Situation komplett anders anfühlen.
Das Empfinden von Ungerechtigkeit ist relativ. Im Umkehrschluss heisst das: Auch Gerechtigkeit ist ein subjektives Empfinden und relativ.
Claudia Buchmann, Nachfolgeexpertin
Auch — oder vielleicht treffender formuliert: aufgrund seiner Komplexität und der vielen Emotionen gerade in einem Nachfolgeprozess gibt es immer wieder Situationen, in denen sich die eine oder andere Person ungerecht behandelt fühlen könnte. Passiert das, so kommt es zu einer “Störung” in der Zusammenarbeit und damit auch im Prozess. Die Gefahr besteht, dass daraus ein Konflikt entsteht. Damit dies nicht geschieht, empfehlen wir gemäss dem Leitsatz “Störungen haben Vorrang” das subjektive Empfinden zeitnah zu thematisieren.
Noch wirksamer wäre (damit es gar nicht erst soweit kommt), das Thema Gerechtigkeit im Nachfolgeprozess gleich von Beginn weg offen zu besprechen und als “Begleitthema” im Prozess mitzunehmen.
Die Aspekte von Gerechtigkeit bei der Nachfolge
Im Rahmen der Unternehmensnachfolge gilt es nicht nur die Frage der Führungsnachfolge (“Wer leitet zukünftig das Unternehmen?”), sondern auch die Frage der Eigentumsnachfolge (“Wer hat welchen Anteil am Eigentum des Unternehmens?”) und, insbesondere bei einer familieninternen Nachfolge, die Frage der Vermögensnachfolge (“Wie wird das Familienvermögen auf die Nachkommen verteilt?”) zu beantworten — im Idealfall so, dass alle involvierten Personen die erarbeitete Lösung als gerecht empfinden.
Was heisst nun aber “gerecht”? Das Thema Gerechtigkeit lässt sich unterteilen in:
- Verteilungsgerechtigkeit
- Prozessgerechtigkeit
Verteilungsgerechtigkeit kann unterschiedlich interpretiert werden
Wer sich dieser beiden Aspekte bewusst ist, kann während einem Nachfolgeprozess einen wichtigen Beitrag leisten für eine gerechte und gerecht empfundene Nachfolgelösung.
Die Verteilungsgerechtigkeit umfasst drei unterschiedliche Prinzipien: das Gleichheits‑, Leistungs- und Bedürfnisprinzip.
Der Grundsatz der Gleichheit würde beim Verteilen eines Kuchens bedeuten, dass alle Anwesenden ein gleich grosses Stück vom Kuchen erhalten. Würde der Kuchen nach dem Leistungsprinzip aufgeteilt, so könnte derjenigen Person, die ihn gebacken hat, ein grösseres Stück zugesprochen werden als den anderen, die nichts zum Kuchen beigetragen haben. Würde man den Kuchen hingegen nach dem Bedürfnisprinzip aufteilen, dann bekäme diejenige Person das grösste Kuchenstück, die momentan am meisten Hunger hat.
Im Rahmen der Unternehmensnachfolge gibt es kein Patentrezept oder eine Art Formel, wie mit der Verteilungsgerechtigkeit umgegangen werden kann. Denn in jeder Familie herrscht eine andere Erfahrung und Kultur mit dem Thema (Verteil-)Gerechtigkeit vor, wirken andere Werte hinein und sind bei der Nachfolge andere Zielvorstellungen zu beachten. Darum müssen die Fragen “jedem das Gleiche” (Gleichheitsprinzip), “jedem nach seinen Beiträgen bzw. seiner Leistung” (Leistungsprinzip) oder “jedem nach seinen Bedürfnissen” (Bedürfnisprinzip) aktiv diskutiert und transparent geklärt werden, welche Erwartungshaltungen da sind und wer welches Verständnis hat.
Prozessgerechtigkeit schafft fair empfundene Bedingungen
Neben der Verteilungsgerechtigkeit gibt es auch eine sogenannte Prozessgerechtigkeit. Bei der Prozessgerechtigkeit geht es nicht um das Endergebnis wie bei der Verteilungsgerechtigkeit (im Beispiel vorher war dies das Kuchenstück), sondern es geht um den Weg hin zur Lösung und es geht um die Mechanismen, die zur Lösung führen. Ziel ist ein als gerecht empfundener Prozess und Bedingungen, die von den Involvierten als fair empfunden werden. Dieses subjektive Empfinden von Gerechtigkeit ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die erarbeitete Nachfolgelösung von allen mitgetragen wird und sie somit nachhaltig ist.
Der Weg ist das Ziel. Es geht darum, Mitgestalten zu ermöglichen. Wenn die involvierten Personen merken, dass sie mitwirken, sich einbringen und beeinflussen können, wird ein Prozess eher als gerecht empfunden.
Patrick Landolfo, Berater Veränderungsprozesse
Es zeigt sich nicht nur in der Forschung, sondern vor allem auch in der Praxis, dass diese als fair empfundenen Bedingungen eine hohe und positive Wirkung in einem Nachfolgeprozess entfalten: Gegenseitiges Vertrauen wird gefördert, die Beteiligten kooperieren miteinander, unterschiedliche Sichtweisen stossen eher auf Akzeptanz und die getroffene Lösung wird besser mitgetragen.
Wie schaffe ich es, dass ein Prozess als gerecht empfunden wird?
Dass ein Nachfolgeprozess als gerecht empfunden wird, ist stark abhängig von der Haltung und Herangehensweise der Beraterinnen und Berater, welche die Nachfolge begleiten. Berater:innen, welche bei der Prozessbegleitung und ‑gestaltung folgende Merkmale berücksichtigen, begünstigen einen Prozess, der als fair empfunden wird:
- Allparteilichkeit
- Transparenz
- Gestaltung ermöglichen
Allparteilichkeit – Eine Beraterin, die mit einer allparteilichen Haltung an den Nachfolgeprozess herangeht, bindet alle Personen in den Prozess ein, welche in irgendeiner Form, direkt oder indirekt, vom Prozess tangiert sind und deshalb zu Wort kommen sollten. Wenn wir als Beispiel ein Familienunternehmen nehmen, sollten also nicht nur diejenigen Familienmitglieder in den Prozess involviert sein, die im Unternehmen arbeiten, sondern auch diejenigen, die ausserhalb des Familienunternehmens einer Tätigkeit nachgehen — dazu gehören auch Ehepartner und Ehepartnerinnen, die angeheiratet sind. Alle am Prozess Beteiligten werden angeregt, ihre Interessen und Sichtweise offen zu äussern. Dies geschieht aus der Haltung heraus, dass alle Beteiligten gleichwertig sind und ihre Beiträge nicht gewertet werden. Damit werden Bedürfnisse explizit gemacht und das gegenseitige Verstehen gefördert.
Transparenz – Wenn gemeinsam ein Weg vereinbart wird, wie der Nachfolgeprozess gestaltet werden soll, ist es wichtig, transparent zu sein und Transparenz zu schaffen — und das immer wieder aufs Neue. Werden auf dem vereinbarten Weg immer wieder explizite Zwischenhalte eingelegt, dann ist für alle klar, wo sie sich befinden. Auch Sitzungsprotokolle, versandt an alle Anwesenden, schaffen Transparenz, weil sie das Wichtigste zusammenfassen und allen Beteiligten die Möglichkeit geben, die geführte Diskussion, die getroffenen Vereinbarungen und Entscheidungen nachzulesen. Diese Transparenz sicherzustellen ist eine wichtige Aufgabe einer Prozessbegleiterin oder eines Prozessbegleiters. Transparenz schafft Nachvollziehbarkeit und damit auch Vertrauen.
Gestaltung ermöglichen – Im gemeinsamen Dialog entstehen Möglichkeiten und Szenarien und es zeigen sich Vor- und Nachteile. Zudem können individuelle Bedürfnisse formuliert und vor allem auch diskutiert werden, inwiefern diese berücksichtigt und umgesetzt werden können, so dass es im Sinne des Unternehmens und eines erfolgreichen Nachfolgeprozesses ist. In diesem Zusammenhang sind auch Instrumente dienlich, die den Dialog auf einer werteorientierten Ebene führen. In unserer Beratungstätigkeit machen wir die Erfahrung, dass ein gemeinsam erarbeitetes und verabschiedetes Nachfolgeleitbild sehr wirkungsvoll ist, um einen Rahmen zu schaffen, in dem sich eine Familie im Nachfolgeprozess bewegen will. Es hält fest, was für den Prozess wichtig ist: als Familie, fürs Unternehmen, im Rahmen des Nachfolgeprozesses und hinsichtlich der Nachfolgelösung.
Gerecht empfundene Lösungen — so unsere Erfahrung — wirken nachhaltig.
Claudia Buchmann, Nachfolgeexpertin
Wenn sich alle Beteiligten bei der Gestaltung des Nachfolgeprozesses einbringen können, sich mit ihren individuellen Sichtweisen gehört fühlen und der Prozess transparent geführt wird, dann wird Prozessgerechtigkeit gelebt. Und damit ist ein wichtiger Beitrag geleistet, dass der Prozess an sich und die erarbeiteten Lösungen als gerecht empfunden werden. Und gerecht empfundene Lösungen – so unsere Erfahrung – wirken nachhaltig. Zum Wohl der Beteiligten wie auch des Unternehmens.
Mehr zum Thema “Prozessgerechtigkeit”
Für alle, die sich vertieft damit auseinandersetzen möchten, wie ein Nachfolgeprozess gerecht gestaltet werden kann, empfehlen wir folgende Inhalte:
- Patrick Landolfo im Gespräch: Weshalb ein Nachfolgeprozess “gerecht” gestaltet werden sollte
- Download Schrift 10 — Gerechtigkeit und Fairness in der Nachfolge
- Download Schrift 12 — KMU Nachfolge-Beratung
Im Download-Center finden Sie zudem unter dem Schlagwort “Transaktionskosten” ergänzende Arbeitsblätter.
Weiterführende Fach-Literatur zum Thema:
- Halter, Frank (2019): KMU Nachfolge-Beratung. 3. Auflage. St. Galler Nachfolge Praxis: Rapperswil-Jona.
- Wolf, Tobias; Kissling Streuli, Sonja; Halter, Frank (2019): Gerechtigkeit und Fairness in der Nachfolge. 2. Auflage. St. Galler Nachfolge Praxis: Rapperswil-Jona.
Fotonachweis: Shutterstock | Abbildungen: © St. Galler Nachfolge und siehe Literatur