Blog 44: Fairness und Gerechtigkeit bei familieninternen Nachfolgen

Bei der Nachfolge in einem Famili­en­un­ter­nehmen spielt die Gerech­tigkeit unter Geschwi­stern eine wesent­liche Rolle, um sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft Konflikte zu vermeiden und die Harmonie zu bewahren. Woher kommt dieses Gerech­tig­keits­emp­finden, woran machen wir es fest und wie gelingt es uns, bei famili­en­in­ternen Prozessen Nachfol­ge­lö­sungen zu erarbeiten, die von allen als fair empfunden werden, obwohl das Gleich­heits­prinzip mögli­cher­weise nicht eingelöst wird?

Aus der Forschung weiss man, dass eine ungleiche Verteilung für Menschen inakzep­tabel ist und als ungerecht empfunden wird. Empathie und Hilfs­be­reit­schaft prägen den Menschen schon früh und sind entscheidend für die Entwicklung eines „Gerech­tig­keits­sinns“. Das kann bereits bei Klein­kindern in Experi­menten beobachtet werden. Der Fokus ist „automa­tisch“ auf „gleich“ program­miert und dabei wird eine „gleiche“ Verteilung grund­sätzlich als fair empfunden. 

Den Aspekt der Gerech­tigkeit haben wir unter anderem in Blog 24 beleuchtet. Dort unter­teilen wir Gerech­tigkeit in Vertei­lungs­ge­rech­tigkeit und in Prozess­ge­rech­tigkeit. Die Vertei­lungs­ge­rech­tigkeit umfasst die drei unter­schied­lichen Prinzipien: das Gleichheits‑, Leistungs- und Bedürf­nis­prinzip.

Die moderne Forschung beschreibt das Gleich­heits­prinzip als bereits angeboren. Es gilt so lange, wie es einen „Schleier des Unwissens“ gibt und man seine eigene Position im sozialen System nicht kennt. Dieser „Schleier der Unwis­senheit“ wurde von John Rawls (1921 – 2002) in seinem Hauptwerk “A Theory of Justice” (1971) thema­ti­siert und besagt, dass Einzel­in­ter­essen keine Auswir­kungen auf die Entscheidung von mehreren Individuen haben, solange sie unwissend sind. So kann – in der Theorie – garan­tiert werden, dass sich auch tatsächlich dieje­nigen Inter­essen durch­setzen, die alle Individuen teilen.

Experi­mente zeigen nun, dass mit zuneh­mendem Wissen über die eigene Position, die Menschen sich immer mehr für das Leistungs­prinzip entscheiden. Das entspricht auch den Erkennt­nissen von John Rawls. Der zentrale Gedanke in “A Theory of Justice” ist, dass Gerech­tigkeit als Fairness verstanden wird. Zur Illustration folgendes Experiment: Eine Gruppe disku­tiert darüber, wie ein definierter Geldbetrag in der Gruppe verteilt werden sollte und kann dabei zwischen 4 verschie­denen Optionen wählen:

  1. Extrem leistungs­ori­en­tierte Verteilung
  2. Klar leistungs­ori­en­tierte Verteilung
  3. Weniger leistungs­ori­en­tierte Verteilung
  4. alle bekommen den gleichen Betrag

Ohne weitere Infor­ma­tionen wählen die meisten Gruppen mit deutlicher Mehrheit zuerst die Option D. Im Rahmen des Experi­ments machen die Teilneh­menden nach der ersten Diskussion einen Leistungstest. Ihr indivi­du­elles Ergebnis bekommen sie in Form eines „Rangs“ zurückgemeldet. 

Eine Wieder­holung der Diskussion und neuer­liche Abstimmung über die vier Optionen führt nach diesem Schritt in den meisten Gruppen dazu, dass sich die Mehrheit der Teilneh­menden für die Option A entscheidet, also in Richtung „Leistung“. Daraus lässt sich eine wichtige Erkenntnis ableiten: auch eine ungleiche Verteilung kann immer noch als fair beurteilt werden

Persönliches Wissen beeinflusst Fairness-Empfinden

Gemäss Rawls könnte eine Erklärung für diese Verän­derung in Richtung Leistung sein, dass die Menschen in Europa und vor allem auch in den USA in einem System der „Ungleichheit“ aufge­wachsen sind, was man mit dem Gini-Koeffi­zient deutlich machen kann. Der Gini Koeffi­zient von Corrado Gini (1884 – 1965) ist ein stati­sti­sches Mass für die Ungleich­ver­tei­lungen in einer Gruppe. Der Index misst den Grad der Ungleichheit in der Einkom­mens­ver­teilung nach dem häuslichen Pro-Kopf-Einkommen in einer Volks­wirt­schaft oder Region.

Ein Mass von Null würde bedeuten, dass das Einkommen zwischen den Teilneh­menden im Sozial­system vollkommen gleich verteilt ist und 1 würde bedeuten, dass sich das Einkommen auf 1 Person im System konzentriert. 

Der Gini-Koeffi­zient (Quelle: Statista) 2022 sieht bei folgenden Staaten wie folgt aus:

LandGini-Koeffi­zient (2018)
Norwegen0,25
Öster­reich0,28
Deutschland 0,29
Schweiz0,31
USA0,49

Die Erfahrung, in einem System der Ungleichheit aufge­wachsen zu sein, können wir auch auf die Situation in der Familie und im Famili­en­un­ter­nehmen übertragen. Entspre­chend kann man es also auch als OK (gerecht) empfinden, wenn nicht alle Famili­en­mit­glieder gleich­be­handelt werden.

Geschwister-Gerechtigkeit aus Sicht der nachfolgenden Generation und der Geschwister

Bei famili­en­in­ternen Nachfol­ge­pro­zessen kann es die Situation geben, dass bei mehreren Kindern nicht alle die Nachfolge antreten wollen. Oder alle Kinder sind in den Nachfol­ge­prozess invol­viert, aber in unter­schied­lichen Rollen und Funktionen. Was bedeutet das nun für einen von allen als fair empfun­denen Nachfolgeprozess?

Beim Nachfol­ge­prozess sollte man sich der Auswirkung eines „Schleier des Unwissens“ bewusst sein und sich daher bewusst mit den Geschwi­stern über die jeweils „eigene Position“ austau­schen. Damit wird die Basis geschaffen, dass eine mögli­cher­weise aus objek­tiver Sicht „ungleiche“ Situation dennoch von allen als fair beurteilt werden kann.

Bei der Diskussion kann das Drei-Kreis-Modell hilfreich sein, um auch die eigene Position zu verdeut­lichen oder auch mögliche zukünftige Positionen erkennen zu können.

Grund­ver­ständnis Famili­en­un­ter­nehmen: Rollen und Erwar­tungen im Drei-Kreis-Modell

In diesem Zusam­menhang leistet jede Form der Trans­parenz einen Beitrag zum Lüften des „Schleier des Unwissens“, d.h. als Nachfol­gerin oder als Nachfolger sollte man pro-aktiv und „regel­mässig“ die Geschwister über den Stand des Nachfol­ge­pro­zesses infor­mieren und einen aktiven Austausch fördern. Das schafft gegen­seitig ein besseres Verständnis und das wiederum stärkt das Vertrauen inein­ander und in einen als fair empfun­denen Prozess.

Geschwister-Gerechtigkeit aus Sicht der übergebenden Generation

Die überge­bende Generation orien­tiert sich nach unserer Erfahrung oft stark am Prinzip der Gleichheit, was im Hinblick auf die Geschwi­ster­ge­rech­tigkeit eine Heraus­for­derung sein kann. Aus ihrer Rolle als Eltern wollen sie möglichst alle Kinder „gleich“ behandeln. Das grund­le­gende Bedürfnis dahinter ist, dass man den Famili­en­frieden und die gegen­seitige Zuneigung nicht gefährden möchte.

Für die überge­bende Generation kann es hilfreich sein zu verstehen, dass eine als „fair“ empfundene Lösung nicht ausschliesslich mit „Gleichheit“ erreicht werden kann. Im Gegenteil. Es ist sogar eine Voraus­setzung, dass alle Kinder die „Ungleichheit“ der Situation anerkennen, um dann zu einer Lösung zu kommen, die alle als „fair“ empfinden. 

Sich bewusst mit dieser Situation ausein­an­der­zu­setzen und die Zeit zu nehmen bedeutet auch, dass man damit auch die „Bilanz der Emotionen“ öffnet. Die Ausein­an­der­setzung führt auch häufig dazu, dass vergangene Erleb­nisse plötzlich wieder „lebendig“ werden. Das trifft vor allem auf Erleb­nisse zu, die mit negativen Emotionen einher­gehen. Wichtig ist es, diesen Emotionen zwar Raum zu geben, gleich­zeitig aber auch nicht zu tief darin einzu­steigen. Eine externe Begleitung kann an diesem Punkt hilfreich sein.

Gemeinsam die Erleb­nisse aus der Vergan­genheit aufzu­ar­beiten und zu klären, ist immer auch eine Chance. Emotionale Hinder­nisse, die für eine erfolg­reiche Nachfolge sehr hinderlich sein können, werden aus dem Weg geräumt. 

Schon bei der Erstellung einer Erbschafts­ver­ein­barung wird sich zeigen, wie gut es gelungen ist, hier eine für alle „fair“ empfundene Lösung zu erreichen.

Dabei kann es hilfreich sein, wenn man für sich mal eine Liste an möglichen Fairness­kri­terien überlegt.

Fairnesskriterien

Die folgenden Fairness­kri­terien sind Beispiele aus der Praxis und können hilfreich sein im Dialog, wie man selber Fairness definieren möchte: 

  • Machbarkeit und ökono­mische Realität
  • Weiterhin Respekt im Umgang mitein­ander nach Beendigung der Konflikte
  • Inter­essen und Bedürf­nisse von jedem Einzelnen 
  • Erhalt von Werten wie Firma und Familienbesitz 
  • Erhalt von Werten wie guter Ruf, Wohl der Kinder
  • Erhalt von Bezie­hungen z.B. Eltern­schaft, Freund­schaft, Geschwisterschaft
  • Absicherung der Zukunft 
  • Anerkennung von Arbeit und Energie 
  • Materi­eller und immate­ri­eller Konten­aus­gelich (auch von Schulden) 
  • Ausgleich von Geben und Nehmen 
  • Prinzipien der Rechts­ordnung sind eingehalten

Mit zwei Beispielen aus der Praxis soll noch einmal die Bedeutung und der Umgang mit dem Thema verdeut­licht werden. 

Beispiele aus der Praxis

Beispiel 1

Ein Weinbauer übergibt die Landwirt­schaft und die dazuge­hörige Wirtschaft seinem Sohn. Dem Sohn gelingt es durch viel Einsatz die Landwirt­schaft und vor allem auch die Wirtschaft so zu betreiben, dass es auch wirtschaftlich ein toller Erfolg ist. Die nicht invol­vierten Geschwister beobachten diesen Erfolg. Sie fühlen sich „betrogen“ und wollen auch ein Stück des (grösser gewor­denen) Kuchens abbekommen. Der fehlende Austausch über eine faire Lösung kann zu solchen Situa­tionen führen, in denen sich nicht mehr direkt betei­ligte Geschwister plötzlich doch noch benach­teiligt fühlen.

Beispiel 2

Ein Autohändler übergibt das Unter­nehmen seinen beiden Söhnen. Die Beziehung zu den Söhnen ist sehr unter­schiedlich. Der jüngere Sohn versteht sich sehr gut mit dem Vater, teilt die Inter­essen an alten Autos mit ihm und verbringt schon in der Kindheit viel Zeit im Unter­nehmen und mit dem Vater. Dem älteren Sohn wird im Rahmen der Nachfolge schmerzlich bewusst, wie viel Zeit er mit seinem Vater verloren hat, weil dieser seine Zeit in das Unter­nehmen und den Bruder investiert hatte. Die Beziehung zwischen den Brüdern ist gut und freund­schaftlich. Trotzdem entsteht beim älteren Sohn das Gefühl, dass hier noch eine „Rechnung offen“ ist. Diese emotionale Rechnung kann den Entscheid für oder gegen die Nachfolge „blockieren“. Es ist daher entscheidend, diese lang verdrängten Emotionen zuzulassen, damit Vater und Sohn gemeinsam einen Weg finden, wie sie hier „Gerech­tigkeit“ schaffen können. 

Fazit

Eine Lösung zu finden, welche alle Famili­en­mit­glieder als fair und gerecht empfinden, erreicht man, indem man den ”Schleier des Unwissens” lüftet. Das bedeutet, es braucht viel Infor­mation, Austausch und möglichst viel Trans­parenz. Dann kann man auch eine offen­sichtlich ”ungleiche” Situation immer noch als gerecht und fair betrachten.

Lösungs­an­sätze können beispiels­weise die Schaffung klarer Regeln für die Nachfolge sein. Oder dass man externe Beratungs­per­sonen einbe­zieht, um einen neutralen und vertrau­ens­vollen Raum zu schaffen, um z.B. Famili­en­kon­fe­renzen durch­führen zu können. Unabhängig davon, welchen Weg man beschreitet, beinhaltet eine gute Lösung immer die gegen­seitige Akzeptanz der unter­schied­lichen Positionen.

Mehr zum Thema

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Fotonachweis: Shutter­stock, St. Galler Nachfolge

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Andreas Salcher

Wenn Andreas Salcher KMU bei Nachfolgeprozessen begleitet, kommt seine ganze Erfahrung als Organisationsentwickler zum Tragen. Als Mediator unterstützt er KMU während Veränderungsprozessen auch bei Konflikten. Vor seinem Engagement als Nachfolgeexperte war Andreas Salcher lange in der Bankenbranche tätig, auch dort mit dem Fokus KMU.

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