Bei der Nachfolge in einem Familienunternehmen spielt die Gerechtigkeit unter Geschwistern eine wesentliche Rolle, um sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft Konflikte zu vermeiden und die Harmonie zu bewahren. Woher kommt dieses Gerechtigkeitsempfinden, woran machen wir es fest und wie gelingt es uns, bei familieninternen Prozessen Nachfolgelösungen zu erarbeiten, die von allen als fair empfunden werden, obwohl das Gleichheitsprinzip möglicherweise nicht eingelöst wird?
Aus der Forschung weiss man, dass eine ungleiche Verteilung für Menschen inakzeptabel ist und als ungerecht empfunden wird. Empathie und Hilfsbereitschaft prägen den Menschen schon früh und sind entscheidend für die Entwicklung eines „Gerechtigkeitssinns“. Das kann bereits bei Kleinkindern in Experimenten beobachtet werden. Der Fokus ist „automatisch“ auf „gleich“ programmiert und dabei wird eine „gleiche“ Verteilung grundsätzlich als fair empfunden.
Den Aspekt der Gerechtigkeit haben wir unter anderem in Blog 24 beleuchtet. Dort unterteilen wir Gerechtigkeit in Verteilungsgerechtigkeit und in Prozessgerechtigkeit. Die Verteilungsgerechtigkeit umfasst die drei unterschiedlichen Prinzipien: das Gleichheits‑, Leistungs- und Bedürfnisprinzip.
Die moderne Forschung beschreibt das Gleichheitsprinzip als bereits angeboren. Es gilt so lange, wie es einen „Schleier des Unwissens“ gibt und man seine eigene Position im sozialen System nicht kennt. Dieser „Schleier der Unwissenheit“ wurde von John Rawls (1921 – 2002) in seinem Hauptwerk “A Theory of Justice” (1971) thematisiert und besagt, dass Einzelinteressen keine Auswirkungen auf die Entscheidung von mehreren Individuen haben, solange sie unwissend sind. So kann – in der Theorie – garantiert werden, dass sich auch tatsächlich diejenigen Interessen durchsetzen, die alle Individuen teilen.
Experimente zeigen nun, dass mit zunehmendem Wissen über die eigene Position, die Menschen sich immer mehr für das Leistungsprinzip entscheiden. Das entspricht auch den Erkenntnissen von John Rawls. Der zentrale Gedanke in “A Theory of Justice” ist, dass Gerechtigkeit als Fairness verstanden wird. Zur Illustration folgendes Experiment: Eine Gruppe diskutiert darüber, wie ein definierter Geldbetrag in der Gruppe verteilt werden sollte und kann dabei zwischen 4 verschiedenen Optionen wählen:
- Extrem leistungsorientierte Verteilung
- Klar leistungsorientierte Verteilung
- Weniger leistungsorientierte Verteilung
- alle bekommen den gleichen Betrag
Ohne weitere Informationen wählen die meisten Gruppen mit deutlicher Mehrheit zuerst die Option D. Im Rahmen des Experiments machen die Teilnehmenden nach der ersten Diskussion einen Leistungstest. Ihr individuelles Ergebnis bekommen sie in Form eines „Rangs“ zurückgemeldet.
Eine Wiederholung der Diskussion und neuerliche Abstimmung über die vier Optionen führt nach diesem Schritt in den meisten Gruppen dazu, dass sich die Mehrheit der Teilnehmenden für die Option A entscheidet, also in Richtung „Leistung“. Daraus lässt sich eine wichtige Erkenntnis ableiten: auch eine ungleiche Verteilung kann immer noch als fair beurteilt werden.
Persönliches Wissen beeinflusst Fairness-Empfinden
Gemäss Rawls könnte eine Erklärung für diese Veränderung in Richtung Leistung sein, dass die Menschen in Europa und vor allem auch in den USA in einem System der „Ungleichheit“ aufgewachsen sind, was man mit dem Gini-Koeffizient deutlich machen kann. Der Gini Koeffizient von Corrado Gini (1884 – 1965) ist ein statistisches Mass für die Ungleichverteilungen in einer Gruppe. Der Index misst den Grad der Ungleichheit in der Einkommensverteilung nach dem häuslichen Pro-Kopf-Einkommen in einer Volkswirtschaft oder Region.
Ein Mass von Null würde bedeuten, dass das Einkommen zwischen den Teilnehmenden im Sozialsystem vollkommen gleich verteilt ist und 1 würde bedeuten, dass sich das Einkommen auf 1 Person im System konzentriert.
Der Gini-Koeffizient (Quelle: Statista) 2022 sieht bei folgenden Staaten wie folgt aus:
Land | Gini-Koeffizient (2018) |
---|---|
Norwegen | 0,25 |
Österreich | 0,28 |
Deutschland | 0,29 |
Schweiz | 0,31 |
USA | 0,49 |
Die Erfahrung, in einem System der Ungleichheit aufgewachsen zu sein, können wir auch auf die Situation in der Familie und im Familienunternehmen übertragen. Entsprechend kann man es also auch als OK (gerecht) empfinden, wenn nicht alle Familienmitglieder gleichbehandelt werden.
Geschwister-Gerechtigkeit aus Sicht der nachfolgenden Generation und der Geschwister
Bei familieninternen Nachfolgeprozessen kann es die Situation geben, dass bei mehreren Kindern nicht alle die Nachfolge antreten wollen. Oder alle Kinder sind in den Nachfolgeprozess involviert, aber in unterschiedlichen Rollen und Funktionen. Was bedeutet das nun für einen von allen als fair empfundenen Nachfolgeprozess?
Beim Nachfolgeprozess sollte man sich der Auswirkung eines „Schleier des Unwissens“ bewusst sein und sich daher bewusst mit den Geschwistern über die jeweils „eigene Position“ austauschen. Damit wird die Basis geschaffen, dass eine möglicherweise aus objektiver Sicht „ungleiche“ Situation dennoch von allen als fair beurteilt werden kann.
Bei der Diskussion kann das Drei-Kreis-Modell hilfreich sein, um auch die eigene Position zu verdeutlichen oder auch mögliche zukünftige Positionen erkennen zu können.
In diesem Zusammenhang leistet jede Form der Transparenz einen Beitrag zum Lüften des „Schleier des Unwissens“, d.h. als Nachfolgerin oder als Nachfolger sollte man pro-aktiv und „regelmässig“ die Geschwister über den Stand des Nachfolgeprozesses informieren und einen aktiven Austausch fördern. Das schafft gegenseitig ein besseres Verständnis und das wiederum stärkt das Vertrauen ineinander und in einen als fair empfundenen Prozess.
Geschwister-Gerechtigkeit aus Sicht der übergebenden Generation
Die übergebende Generation orientiert sich nach unserer Erfahrung oft stark am Prinzip der Gleichheit, was im Hinblick auf die Geschwistergerechtigkeit eine Herausforderung sein kann. Aus ihrer Rolle als Eltern wollen sie möglichst alle Kinder „gleich“ behandeln. Das grundlegende Bedürfnis dahinter ist, dass man den Familienfrieden und die gegenseitige Zuneigung nicht gefährden möchte.
Für die übergebende Generation kann es hilfreich sein zu verstehen, dass eine als „fair“ empfundene Lösung nicht ausschliesslich mit „Gleichheit“ erreicht werden kann. Im Gegenteil. Es ist sogar eine Voraussetzung, dass alle Kinder die „Ungleichheit“ der Situation anerkennen, um dann zu einer Lösung zu kommen, die alle als „fair“ empfinden.
Sich bewusst mit dieser Situation auseinanderzusetzen und die Zeit zu nehmen bedeutet auch, dass man damit auch die „Bilanz der Emotionen“ öffnet. Die Auseinandersetzung führt auch häufig dazu, dass vergangene Erlebnisse plötzlich wieder „lebendig“ werden. Das trifft vor allem auf Erlebnisse zu, die mit negativen Emotionen einhergehen. Wichtig ist es, diesen Emotionen zwar Raum zu geben, gleichzeitig aber auch nicht zu tief darin einzusteigen. Eine externe Begleitung kann an diesem Punkt hilfreich sein.
Gemeinsam die Erlebnisse aus der Vergangenheit aufzuarbeiten und zu klären, ist immer auch eine Chance. Emotionale Hindernisse, die für eine erfolgreiche Nachfolge sehr hinderlich sein können, werden aus dem Weg geräumt.
Schon bei der Erstellung einer Erbschaftsvereinbarung wird sich zeigen, wie gut es gelungen ist, hier eine für alle „fair“ empfundene Lösung zu erreichen.
Dabei kann es hilfreich sein, wenn man für sich mal eine Liste an möglichen Fairnesskriterien überlegt.
Fairnesskriterien
Die folgenden Fairnesskriterien sind Beispiele aus der Praxis und können hilfreich sein im Dialog, wie man selber Fairness definieren möchte:
- Machbarkeit und ökonomische Realität
- Weiterhin Respekt im Umgang miteinander nach Beendigung der Konflikte
- Interessen und Bedürfnisse von jedem Einzelnen
- Erhalt von Werten wie Firma und Familienbesitz
- Erhalt von Werten wie guter Ruf, Wohl der Kinder
- Erhalt von Beziehungen z.B. Elternschaft, Freundschaft, Geschwisterschaft
- Absicherung der Zukunft
- Anerkennung von Arbeit und Energie
- Materieller und immaterieller Kontenausgelich (auch von Schulden)
- Ausgleich von Geben und Nehmen
- Prinzipien der Rechtsordnung sind eingehalten
Mit zwei Beispielen aus der Praxis soll noch einmal die Bedeutung und der Umgang mit dem Thema verdeutlicht werden.
Beispiele aus der Praxis
Beispiel 1
Ein Weinbauer übergibt die Landwirtschaft und die dazugehörige Wirtschaft seinem Sohn. Dem Sohn gelingt es durch viel Einsatz die Landwirtschaft und vor allem auch die Wirtschaft so zu betreiben, dass es auch wirtschaftlich ein toller Erfolg ist. Die nicht involvierten Geschwister beobachten diesen Erfolg. Sie fühlen sich „betrogen“ und wollen auch ein Stück des (grösser gewordenen) Kuchens abbekommen. Der fehlende Austausch über eine faire Lösung kann zu solchen Situationen führen, in denen sich nicht mehr direkt beteiligte Geschwister plötzlich doch noch benachteiligt fühlen.
Beispiel 2
Ein Autohändler übergibt das Unternehmen seinen beiden Söhnen. Die Beziehung zu den Söhnen ist sehr unterschiedlich. Der jüngere Sohn versteht sich sehr gut mit dem Vater, teilt die Interessen an alten Autos mit ihm und verbringt schon in der Kindheit viel Zeit im Unternehmen und mit dem Vater. Dem älteren Sohn wird im Rahmen der Nachfolge schmerzlich bewusst, wie viel Zeit er mit seinem Vater verloren hat, weil dieser seine Zeit in das Unternehmen und den Bruder investiert hatte. Die Beziehung zwischen den Brüdern ist gut und freundschaftlich. Trotzdem entsteht beim älteren Sohn das Gefühl, dass hier noch eine „Rechnung offen“ ist. Diese emotionale Rechnung kann den Entscheid für oder gegen die Nachfolge „blockieren“. Es ist daher entscheidend, diese lang verdrängten Emotionen zuzulassen, damit Vater und Sohn gemeinsam einen Weg finden, wie sie hier „Gerechtigkeit“ schaffen können.
Fazit
Eine Lösung zu finden, welche alle Familienmitglieder als fair und gerecht empfinden, erreicht man, indem man den ”Schleier des Unwissens” lüftet. Das bedeutet, es braucht viel Information, Austausch und möglichst viel Transparenz. Dann kann man auch eine offensichtlich ”ungleiche” Situation immer noch als gerecht und fair betrachten.
Lösungsansätze können beispielsweise die Schaffung klarer Regeln für die Nachfolge sein. Oder dass man externe Beratungspersonen einbezieht, um einen neutralen und vertrauensvollen Raum zu schaffen, um z.B. Familienkonferenzen durchführen zu können. Unabhängig davon, welchen Weg man beschreitet, beinhaltet eine gute Lösung immer die gegenseitige Akzeptanz der unterschiedlichen Positionen.
Auf unserer Plattform finden Sie weiterführende Unterlagen zum Thema. Unter anderem folgende Beiträge:
- Dossier: Gerechtigkeit und Fairness in der Nachfolge (Schrift Nr. 10)
- Blog 24: Gerechtigkeit als Schlüssel für erfolgreiche Nachfolgelösungen
- Ladina Schmidt im Gespräch: Gerechtigkeit unter Geschwistern bei der Nachfolge
- Als Tochter die Nachfolge antreten: Fabienne Schaub im Gespräch
- Als Sohn die Nachfolge antreten: Michael Müller im Gespräch
Im Download-Center stellen wir Ihnen diverse Unterlagen und Arbeitsblätter kostenlos zur Verfügung.
Fotonachweis: Shutterstock, St. Galler Nachfolge